Alle Gleise führen nach Bramsche 2015

In den Farben getrennt – in der Sache vereint! Die Sache, die die getrennten Farben vereint, ist fallabhängig. Meist handelt es sich dabei um eine vereins- und ligenübergreifende fanpolitische Angelegenheit, die Fans aller Couleur betrifft. Oder um schlechtes Wetter. Und Bramsche. Alle Gleise führen nach Bramsche.

Alle Gleise führen nach Bramsche- von Jan-Hendrik Grotevent

„InterCity aus Köln verzögert sich aufgrund Unwetter auf unbestimmte Zeit“, quakt es durch den Hamburger Hauptbahnhof. Die Paulianer aus der südwärtigen Diaspora des Millerntors ahnen es. Die auswärts gefahrenen Bielefelder ahnen es. Die betroffene Strecke ist mit ziemlicher Sicherheit die ihre. Aber beide Fraktionen sagen sich: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Beide Fraktionen haben darin reichlich Übung. Es ist 19.15 Uhr.

Bis Bremen kommt der Zug, ab da wird es spannend. Werder Bremen hatte Fantag. Der FC Sevilla war zu Gast. Allgemeine Grundstimmung im Bremer Hauptbahnhof: Heillose Panik bei den nicht-fußballfahrenden Bahnreisenden. Fatalismus bei den Werderanern. Routinierte Hoffnung bei Paulianern und Bielefeldern.

Neben den langen Schlangen vor dem Reisezentrum steht der Zugbetreiber mit den zwei Buchstaben. Er verteilt Entschuldigungen, Mitropa-Kaffee, „Weiß ich nicht“ und „Geht nicht. Höhere Gewalt“ unter den Reisenden und solchen, die es werden wollen. Nach Hannover. Nach Oldenburg. Nach Osnabrück. Doch, Regionalbahn 58 nach Osnabrück fährt tatsächlich. Ja? Nein! …äh…doch…Doch! Es ist 21.17 Uhr.

Alle Gleise führen nach Bramsche

Regionalbahn 58 lässt auf sich warten. Der Bahnsteig füllt sich, während der Regionalexpress nach Hannover ausfällt, doch fährt, wieder ausfällt und schließlich irgendwo zwischen Bombay und Kalkutta wiedergefunden wird. Am Bahnsteig stehen: ein Viertel des Gästeblocks des Millerntors. Ein Viertel des restlichen Millerntors. Zwei Drittel des Weserstadions. 2.400 weitere Bahnreisende. Sechs Radfahrer, die um ihren Optimismus zu beneiden sind. Um ihre Situation weniger.

Das eingesetzte Fahrzeug sieht aus wie ein Schuhkarton. Genauso eckig, genau so groß. Die Radfahrer bekommen ein paar halbleere Bierdosen als Nachtverpflegung und melancholische Glückwünsche mit, als sie am Bahnsteig zurückgelassen werden. Der Rest zwängt sich in den Schuhkarton. Auf jedem Quadratmillimeter ein Mensch in grünweiß, schwarzweißblau, braunweiß oder fußballfarblos. Die Tür hinten rechts ist kaputt, was die Situation nicht begünstigt. Das gleiche gilt für die „Bitte aufrücken“-Durchsagen des Fahrzeugführers. Schließlich ist die Bahn bis unters Dach voll. Irgendwann ist die Tür zu. Ächzend setzt sich die Bahn in Bewegung. Es ist 22.00 Uhr.

Bramsche

Tapfer schnauft Regionalbahn 58 im Zickzackkurs durch Niedersachsen. Jedes Gefühl für Raum und Zeit geht verloren. „Ich will noch’n Bier“, sagt der pubertierende Werder-Sohn. „Nein!“, sagt der Werder-Vater. „Doch“, sagt der Werder-Sohn bestimmt, nutzt die wegen Platzmangel stark eingeschränkte Reichweite des Erzeugers und fummelt eine schwarze Dose aus dessen Rucksack. „0.5“ steht groß drauf. „Lass es!“, schnauzt der Werder-Vater, „Du darfst zwar, aber Du verträgst nicht viel.“.

„Pass mit Deinem Ellbogen auf“, sagt der Bielefelder zum zweiten, jüngeren Werder-Sohn. „Wieso?“, fragt dieser, fährt herum und wischt mit dem Ellbogen einer sitzenden Reisenden die Brille von der Nase. Die schreckt hoch und knallt vor den älteren Werder-Sohn, der dem Werder-Vater daraufhin 0.2 von den 0.5 in den Nacken kippt. „Deswegen“, kann sich der Bielefelder nicht verkneifen. „Was bist Du für einer?“, fragt der Werder- Vater. „Arminia Bielefeld“, sagt der Bielefelder. „St. Pauli“, sagt der Paulianer zwischen den beiden. „Geh mir weg mit Arminia“, sagt der Werder-Vater, „Wegen Pokal…“. Der Bielefelder grinst. „Geh mit weg mit St. Pauli“, ergänzt der Werder-Vater, „wegen St. Pauli“. Der Paulianer grinst.

„Ihr habt doch beide Eure guten Zeiten hinter Euch.“. – „Sagt ein Bremer“, antworten die Zweitligisten unisono. „Ohne di Santo wird es besser“, behauptet der Werder-Vater. „Wen habt Ihr als Ersatz?“, fragt der Paulianer. „Ujah!“. Paulianer und Bielefelder grinsen. „Habt Ihr was zum Anstoßen?“, kommt der Werder-Vater zum solidargemeinschaftlichen Teil der Konversation. Nein, haben beide nicht. Der Werder-Vater auch nicht, sein letztes Bier befindet sich teilweise in seinem Nacken, teilweise in seinem Thronfolger. Vechta ist erreicht. Die Reisenden können ab jetzt auf zwei Füßen stehen. Es ist 23.00 Uhr. Oder so.

Eine Werder-Familie hat eine Vierersitzgruppe erobern können. Mama, Papa und zwei kleine Jungs lesen gemeinsam die Sonderausgabe einer Sportzeitschrift zur neuen Bundesligasaison. Der ältere der beiden Jungs erfindet ein Spiel: Rückennummern raten. Und er geht jeden Kader der Bundesliga durch. Papa weiß so leidlich Bescheid. Kießling hat die 11 bei Leverkusen, na guck.

Mama will das Spiel schwerer machen und fordert mehrfach, den Kader von Darmstadt 98 zu nehmen. Der ganz Lütte tippt wild drauf los. Ein Bielefelder klemmt irgendwo zwischen Mittelgang und Gepäckablage und betätigt sich als Einflüsterer. Er sieht dem älteren Kiddo über die Schulter in das Heft und hält dem ganz Lütten Finger hoch. Mit einer Hand, die andere ist irgendwo zwischen Millerntor und Osnabrück. Leider kann der ganz Lütte noch nicht weit addieren. Eine Rückennummer 16 – Hand-Hand-Hand-Finger – ist bei ihm „Fümpf! Fümpf! Fümpf! Eins!“.

Der ältere Bruder hat die Schummelei bald durchschaut, macht aber weiter und gönnt dem Lütten die Freude. Die Einflüsterungen des Bielefelders werden nur kurzzeitig durch ein paar Limbotänze unterbrochen: „Darf ich mal vorbei? Muss auf die Toilette…Danke.“. Die Aussage des Werder-Vaters, dass sein Ältester kein Bier vertrage, erweist sich kurz darauf als begründet- leider nicht auf der Toilette. Zwei Teenage-Queens, die seit Bremen eng aneinander geklammert auf einer Gepäckeinlage sitzen, quittieren das mit leisem Wimmern. Der rollende Schuhkarton leert sich. Regionalbahn 58 ist in Bramsche. Es ist 0.00 Uhr.

Drei Halte sind es bis Osnabrück. Zwei wird der Schuhkarton noch anfahren. Wer direkt nach Osnabrück will, soll sich am Nachbargleis einfinden, dort geht ein Direktzug. „Schaffen wir den Zug von Osnabrück nach Münster um 1.19 Uhr?“, fragt ein Pärchen. Der Fahrzeugführer schaut aufs Handy. „Wir sind kein Regionalexpress, der mit 160 durchsägt…“, grübelt er, „ja, aber wird wohl.“. Seine Mundart weist ihn als Leipziger aus. In Bramsche gibt es eine Wasserburg, ein Schloss und viele hübsche Fachwerkhäuser.

Der Bahnhof von Bramsche ist aber der Bahnhof von Bramsche und es ist nicht viel Kopfkino nötig, um ihn sich authentisch vorstellen. Noch nicht mal ein Getränkeautomat. Der Fahrzeugführer ist „Schämmigor“ und kann mit einigen sehr witzigen Anekdoten aus dem Alfred-Kunze-Sportpark zu Leipzig- Leutzsch aufwarten. Oder von heißen Derby-Gastspielen im Bruno-Plache. „Gibt’s auch Geschichten aus dem Zentralstadion?“ – „Keene! Niemals!“. Der private Bahnbetreiber hat improvisiert. Nicht einer, nicht zwei, nein, ganze drei Schuhkartons stehen zur Direktfahrt nach Osnabrück bereit. Die Reisenden haben soviel Platz wie bei einem Spiel im Zentralstadion! Zwar sind aus irgendwelchen Gründen alle Sitze nass, doch es ist Platz, es ist Ruhe, und es geht nach Osnabrück. Es ist 0.40 Uhr.

Der Hauptbahnhof Osnabrück ist ein Phänomen. Er ist mit allem ausgestattet, was ein Bahnreisender braucht, strahlt aber trotzdem eine permanente Unwitzigkeit aus. In dieser Nacht ist er nicht nur unwitzig, sondern auch humorlos. „Unwetter. Kein Zugbetrieb möglich.“, verkünden die Anzeigetafeln. Es ist 1.11 Uhr.

Der private Bahnbetreiber erweist sich als Meister der Improvisation. Auf dem Bahnhofsvorplatz steht ein Bus bereit, der die letzten Überlebenden nach Münster verfrachten soll. Das Fahrzeug weckt Kindheitserinnerungen. Ein Gelenkbus für den Linienverkehr der Spätachtziger/Frühneunziger. Vorne oben hängt tatsächlich noch das Anzeigelicht, wo mit lautem „Pling!“ und in ungelenken roten Lettern „Wagen hält“ aufleuchtet.

Der Busfahrer ist dick, grauhaarig, sitzt mit Fluppe im Hals auf den Trittbrettern und heißt natürlich Kalle. „Ganz entspannt, wir haben Zeit“, ist sein Mantra. „Fahm Fie nach Mümfter Hauptbahnhof?“ – „Ja. Bitte einsteigen.“. – „Sie sind der Bus nach Münster?“. – „Ja. Immer man rein.“. – „Kann ich gerade noch meiner Freundin Bescheid sagen? Die wartet noch auf dem Bahnsteig [Wieso?]“ – „Na klar.“ – „Fahm Fie nach Mümfter Hauptbahnhof?“ – „Ja.“. – „Is it the bus to Münster?“ – „Jou.“. – „Sankt-Pau-li!“ – „Näää, Münster.“ – „Mümfter Hauptbahnhof?“ – „Jahaa.“. Es geht los. Es ist 1.19 Uhr.

Kalle findet einen 24-Stunden-Ballermann-Mucke-Sender. Er öffnet das Seitenfenster und zieht eine Fluppe nach der anderen durch. Er fährt seinen Oldtimer über die Autobahn. Vollgas. Auf dem Kreuz Lotte bei Vollgas in der Kurve gute Schräglage, stabile Straßenlage. „Also ich will diese Saison mal zum BVB“, heißt es aus dem gemischten Doppel hinten links. „Aber nicht, wenn es regnet. Der Marco Reus ist ja soooo süß.“. Kalle fährt eine Tanke an. Kalle tankt. Kalle verschwindet. Ein Paulianer und zwei Bielefelder reflektieren den Tag. „Arminen seid Ihr? Geht kacken. Irgendwo da vorne…Hat’s Euch gefallen bei uns?“. „Iff daff Mümfter Hauptbahnhof?“ – „Sieht es so aus?“ – „…mömpf… Mümfter Hauptbahnhof?“ – „Nein.“. Es ist 1.50 Uhr.

Kalle rast. Kalle ignoriert sämtliche Anfragen zu möglichen und unmöglichen Zwischenhalten. „Nur wenn es nicht regnet“, flötet ein Viertel des gemischten Doppels weiter vor sich hin, „aber dann nur BVB.“ – „Du redest Quatsch.“, kontert der Paulianer und unterstreicht damit, dass die Erfahrung „Bahnhof Bramsche um Mitternacht“ deutlich mehr nachwirkt als Hochglanzbilder von Marco Reus. Kalles Busexpress ist in Münster. Viele Insassen freuen sich zum ersten Mal in ihrem Leben so richtig über die Existenz der Antoniuskirche, auch wenn Kalle fast das Abbiegen vergisst. „Iff daff Mümfter Hauptbahnhof?“ – „Ja!“. Es ist 2.30 Uhr.

Wie hat Werder Bremen eigentlich gegen Sevilla gespielt? St. Pauli gegen Bielefeld?

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