Das verlorene Bielefelder Derby – Ein Stück (Sport)Geschichte

von Jan-Hendrik Grotevent

Lange war es ein Fixpunkt der Saisonvorbereitung: Auf der Russheide wird das Bielefelder Derby zwischen dem VfB Fichte Bielefeld und dem DSC Arminia Bielefeld ausgetragen. Amateure gegen Profis. Was heute ein Freundschaftsspiel ist, war in früheren Zeiten ein heißes Duell.

Cheruskia und Terpsichore

Jeder kennt die Geschichten von der „Ballrauferei“, der „Fußlümmelei“, die irgendwann rund um die vorletzte Jahrhundertwende aus England herüberkam und dafür sorgte, dass sich die Jugend auf der Straße mit Freuden beim Kicken dreckig machte, sehr zum Ärger von Eltern, Lehrern und sonstigen Anstandswächtern. In Bielefeld gründeten ein paar studentische Wochenendheimfahrer am 3. März 1903 in Anlehnung an traditionelle akademische Korporationen die „Cheruskia“, die sich später, als ihr weitere Sportarten angegliedert wurden, in „VfB 03 Bielefeld“ umbenannte.

Die jungen Flaneure pflegten gute Beziehungen zur „Terpsichore“, einer bürgerlichen Zusammenkunft, die unter anderem regelmäßige Tanztees veranstaltete. Im Mutterland des Fußballs hätte man die Terpsichore wohl klassisch als „Club“ bezeichnet. Hier nun kam einigen Mitglieder die Idee, das gesellige Beisammensein durch Sport treiben – oder konkret: Fußballspielen – zu erweitern. Die Idee stieß bei den Tanzteetrinkern auf wenig Gegenliebe…Der Rest ist bekannt, wurde am 3. Mai 1905 aus der Taufe gehoben und nannte sich „1. Bielefelder Fußballclub Arminia“. Fast 60 Jahre lang sollten die „roten Hüpker“ vom VfB 03 und die „blauen Arminen“ fortan um die Nummer Eins in Bielefeld streiten.

Bielefelder Derby

Die Nummer Eins in Bielefeld – Blau gegen Rot

Die ehemalige Spielvereinigung Fichte 06/07 Bielefeld, die „andere Hälfte“ des heutigen VfB Fichte Bielefeld, geht auf die Fusion mehrerer Bielefelder Vereine zwischen 1906 und 1921 zurück. Die Fußballabteilung der Spielvereinigung ließ sich vor dem Zweiten Weltkrieg ab und an in den höchsten Spielklassen Westfalens blicken und besiegte Arminia in der Saison 1931/1932.

Zeitgleich gab es den Arbeitersportverein FTSV Fichte Bielefeld. Die FTSV war im Arbeiterturn- und Sportbund organisiert und wurde zwischen 1929 und 1933 viermal Bielefelder Bezirksmeister im „Arbeiterfußball“. 1929 spielten die Sieker um die Arbeitermeisterschaft mit. Außerdem stellte der Verein zwei „Arbeiternationalspieler“. Die nationalsozialistische Regierung verbot die FTSV im Jahre 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich Spielvereinigung und die wiedergegründete BTSV Fichte zur Spvgg. Fichte zusammen. Der Fußball kam nicht über die regionale Ebene hinaus.

Mit ihrem breiten Sportangebot war die Spvgg. Fichte einer der größten Sportvereine der Stadt. Fichtes Heimat war und ist die Bezirkssportanlage Rußheide, auf der sich bis heute Generationen von Bielefelder Schulkindern durch die jährlichen Bundesjugendspiele quälen müssen. Auch „Fichte“ hat damit eine erhebliche lokale Bedeutung im lokalen und regionalen Sport. Im Jahre 1999 fusionierte Fichte mit dem VfB 03 mit dem Ziel, die zweite Kraft im Bielefelder Fußball zu werden.

Sicherlich gab es das eine oder andere Aufeinandertreffen von Hüpkern und Arminen vor dem Ersten Weltkrieg. Richtig spannend wurde das Duell zum ersten Mal in der Saison 1917/1918, als Rot und Blau punkt- und torgleich an der Spitze der Bezirksliga Ravensberg-Lippe standen. Ein Entscheidungsspiel wurde angesetzt. Der VfB schlug Arminia mit 1:0. Auch im Bezirkspokalfinale besiegte der VfB den 1.BFC mit 2:1.

Damit waren die Hüpker Doublesieger. Arminia konnte schon damals keine Entscheidungsspiele und bis die Blauen sich an Pokalwettbewerbe gewöhnten, sollte es noch knapp 90 Jahre dauern. Bis 1933 spielten die beiden Vereine klassengleich. Die frühen 1920er Jahre gehörten Arminia, die mehrere Westfalenmeisterschaften und zweimal den westdeutschen Meistertitel an den Osning holte.

Der 1.BFC spielte an der Pottenau und zog 1926 auf eine Wiese im Bielefelder Westen, die aussah, wie…ist bekannt. Schon zwei Jahre zuvor fand der VfB seine Heimat in der VfB-Kampfbahn zwischen Heeper Straße und Huberstraße. 15.000 Zuschauer fanden Platz. 1930 hatten die Hüpker die Nase vorn und wurden Westfalenmeister. Als westdeutscher Vizemeister nahmen sie an der Endrunde um die deutsche Meisterschaft teil.

1933 gelang Arminia der Aufstieg in die Gauliga. Die Blauen waren zum ersten Mal eine Klasse höher als die Roten. Das sollte sich schnell erledigen, da Arminia direkt wieder abstieg. 1938 ging es wieder rauf. Der VfB zog ein Jahr später nach. Bis 1942 wurde das Bielefelder Derby in der Gauliga ausgetragen, der damals höchsten Spielklasse. In den letzten Kriegsjahren schloss sich der „Bielefelder Fußballrest“ zur Kriegsspielgemeinschaft Bielefeld zusammen. Sie absolvierte, Freundschaftsspiele mitgerechnet, etwa 20 Spiele.

1945 wurde kurz überlegt, die unfreiwillige Fusion beizubehalten, der Gedanke wurde aber zu den Akten gelegt. Das 98. Bielefelder Derby, das erste nach dem Krieg, war ein Freundschaftsspiel, das am 3.März 1946 an der Heeper Straße ausgetragen wurde – 43 Jahre nach Gründung der Cheruskia. In der Nachkriegszeit hatten die Anhänger beider Clubs reichlich Gelegenheit, „Die Nummer Eins in Bielefeld“ zu brüllen. Von 1946 bis 1948 war der VfB höherklassig. In der Saison 1949/1950 der DSC, ebenso 1952 bis 1954.

In der Spielzeit 1955/1956 war es wiederum der VfB. Ab 1954 spielten beide für weitere sieben Jahre klassengleich in der Landesliga. Erst als Arminia 1963 in die Division West aufstieg, trennten sich die Weg endgültig. Die Blauen nahmen ihren bekannten Weg. Die Roten behielten Bedeutung im westfälischen Fußball, bis in den 1970er Jahren der sportliche Niedergang folgte.

Erst in der Saison 2003/2004 er Oberliga Westfalen sollte das Duell ein Revival erleben. Der VfB Fichte und die Zweite Mannschaft des DSC spielten gemeinsam in der Oberliga Westfalen. Das Hinspiel auf der Rußheide vor 2.200 Zuschauern, bei dem Alt-Armine Uli Stein das Tor der Roten hütete und ein gewisser Carsten Rump auf Seiten der Blauen spielte, wurde ein echter Krimi: In der 88. Minute erzielte der VfB Fichte das 2:1, doch Arminia glich in der Nachspielzeit aus.

Auch zum Rückspiel kamen über 2.000 Zuschauer auf die Alm – es ging um nicht weniger als um den Regionalliga-Aufstieg. Arminia setzte sich mit 2:0 durch und wurde drittklassig. Der VfB Fichte spielte zwar die erfolgreichste Saison seit der Fusion 1999, musste sich aber mit der Holzmedaille zufrieden geben. Danach ging es für die Roten bis in die Siebtklassigkeit hinab.

Wie hat es sich wohl angefühlt?

Wie haben sich die 1920er Jahre angefühlt? Oder die 1950er Jahre? Wie hat sich Fußball in den 1920er Jahren angefühlt? Oder in den 1950er Jahren? Wie heute wird auch damals gegolten haben: Fußballfan zu sein ist Spaß an der Freude, die Liebe zu einem Verein und eine tolle Gelegenheit, aus dem Alltag auszubrechen. Mit allem, was dazugehört. Der Armine steht hinter dem Hüpker in der Schlange beim Bäcker. Beide beäugen sich kritisch. Straßenseiten werden gewechselt. Auf Arbeit wird gefrotzelt, vielleicht auch gezankt. In der Kneipe geht vielleicht sogar mal der eine oder andere Griff an den Hemdkragen.

Wie bedeutsam das Bielefelder Derby war, zeigen Zahlen aus den Fuffzigern, als die Paarung Rot gegen Blau regelmäßig 10.000 bis 15.000 Zuschauer an den Rasen lockte. Arminias Chronik „100 Jahre Leidenschaft“ berichtet von heißer Atmosphäre und einigen Prügeleien auf den Rängen. Ein Rolle wird wohl auch gespielt haben, dass die Anhänger des VfB 03 mehr aus dem Arbeitermilieu kamen. Arminias Anhängerschaft war eher bürgerlich. Und die Blauen scheinen sich auch entsprechend verhalten zu haben. Der Verfasser leistete seinen Zivildienst während der 1990er in einem Bielefelder Seniorenheim. Dessen Bewohner erzählten von „diesen eingebildeten Gockeln, die da hinter der Bossestraße gespielt haben“ und dass die Arminen „die Nasen sooo hoch getragen“ hätten.

Die Rivalität zeigte sich auch, als der technisch sehr versierte Spieler Herbert Kordfunke in den 1950er Jahren vom DSC zum VfB wechselte und von den Blauen als „Verräter“ beschimpft wurde. Das Bielefelder Derby-Feeling ist jetzt, da das letzte Aufeinandertreffen der beiden ersten Mannschaften über ein halbes Jahrhundert her ist, nur schwer zu reproduzieren. Das Interesse, das die Oberligapaarungen 2003/2004 hervorriefen und die Anspannung, die dabei herrschte, zeigen aber, das ein Derby-Feeling innerhalb der Leineweberstadt durchaus vorhanden ist.

Das Bielefelder Derby: Lost Derby, Lost Places – Lost history?

Das Duell Rote gegen Blaue ist vorbei. Ein „lost derby“. Ein Rückblick auf alte Zeiten ist außerdem ein Rückblick auf „lost places“. Auf dem Gelände der alten VfB-Kampfbahn steht nun ein Marktkauf. Der mit der Bowlingbahn. Auf Arminias erster sportlichen Heimat an der Pottenau stehen Industriebauten. Arminia hat sich völlig auf ihre Immobilie an der Melanchthonstraße zurückgezogen-aktuell zur Miete.

Heute spielen der VfB Fichte und der DSC Arminia gegeneinander zum Anfang ihrer Saisonvorbereitung. Jedes der Freundschaftsspiele wird in die Derby-Zählung aufgenommen, als „Bielefelder Derby“ bezeichnet und mit reichlich Rahmenprogramm aufgezogen. Ein Bielefelder Fußballhappening, dass sich auf Bielefelder Fußballtradition beruft und angemessen gefeiert wird. Leider scheint auch das nach der Corona-Pandemie Geschichte zu sein.

Schade drum!

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