Tatsächlich: Der Rundumbeobachter schaut auch woanders Fußball. In seiner Zeit als Münster-Exilant fuhr er oft durch die damals noch existente NRW-Liga und nach oben und unten angrenzende Spielklassen und machte Fotos. Dabei entdeckte er das Phänomen des Amateur-Fußball-Laberfürsten, der eigentlich immer „Kalle“ heißt. Kalle ist ohne Zweifel ein fankulturelles Phänomen und hat einen Text verdient (Sommer 2014).
Wer Kalle ist? Nun, niemand spezielles. Bevor alle Karls, Karl-Heinze und Karl-Wasauchimmers schmollen, es geht nicht um den Namen. Kalle ist ein ganz besonderer Typus, dem man ab und an in den Kurven der Fußballwelt begegnet. Eine Mixtur aus Aufschneider und Nervensäge. Sie soll hier als Erscheinung der Fankultur gewürdigt werden.
A Tribute to Kalle
Der erste Amateurliga-Sonntag der neuen Saison! Du bist auf Fußballtour und lernst ein neues Stadion kennen. Kurz hinter dem Kassenhäuschen muss es passiert sein. Wie Du an Kalle geraten bist, weißt Du nicht. Es muss irgendeine kleine, unbewusste Handlung gewesen sein – eine Frage in den Pulk („Ey, wo is’n das Klo hier?“) oder auch nur eine Millisekunde Blickkontakt. Auf jeden Fall hast Du jetzt Kalle an der Backe. Er kennt alles und jeden und ist nur allzu gern bereit, Dich das wissen zu lassen. Dass seine Sicht den einen oder anderen Unterschied zur Realität aufweist, ist ihm dabei völlig Peng.
„Einen Wimpel willst Du haben? Na klar, haben wir Wimpel! Wir haben doch jetzt den neuen Fanshop mit den neuen Fanartikeln! Und ich kenne den Guido vom Fanshop total gut. Da gehen wir gleich mal hin.“. Also schreitet das selbsternannte Vereinsfaktotum voran. Du folgst ihm notgedrungen, schließlich sammelst Du Wimpel.
Kalle grüßt hier und da nach links und rechts, ohne allerdings große Beachtung zu finden. „Na Franz?“, sagt er im Vorbeigehen zu einem älteren Herrn im taubengrauen Sommerhemd, „Bist Du heute Abend auch auf der Vereinssitzung?“. Als Antwort erhält Kalle einen leicht indignierten „Kenn ich Dich?“-Blick und ein knappes „Heute ist keine Sitzung“. „Das war Franz“, sagt Kalle an Dich gewandt und senkt verschwörerisch die Stimme, „ein ganz hohes Tier im Verein, wir haben schon die eine oder andere Vereinssitzung zusammen gerockt“.
Der Fanshop des Gastgebervereins erweist sich als ein Pappkarton voller T-Shirts im Kofferraum eines 80er-Jahre-Passats. Guido ist ein Vokuhila im Hawaiihemd. „Grüß Dich, Guido!“, ruft Kalle ihm entgegen. „Mein Kumpel hier will einen Wimpel kaufen“. Guidos knappe Antwort lautet: „Wimpel? Hab ich nicht. Noch nie gehabt“. Während Du Dich leicht über die unerfüllte Sammelleidenschaft und über Kalles Ernennung zum „Kumpel“ ärgerst, ist dieser einen Schritt weiter. „Ist noch Zeit bis Anstoß, komm, wir gehen ins Vereinsheim, da kenne ich alle, und da ist jetzt richtig was los“, sagt er, klopft Dir auf die Schulter und zieht Dich mit. Keine Chance zu fliehen.
„Ich bin ja selber Jugendtrainer“, salbadert Kalle, während Ihr die Tribünen umrundet und zwischen den Trainingsplätzen auf einen Bungalow mit Kneipenschild zulauft, „Du weißt ja bestimmt, der Mario Reus, der kommt von hier. Den hab ich noch in der Jugend trainiert.“. Du fragst Dich, wer Mario Reus ist, willst aber nicht unhöflich sein und fragst: „Ehrlich? Wie war das, als er bekannt wurde?“. „Na ja, der hat ja auf Pump alles ausgegeben. Kaum hat der in Leverkusen angeheuert, kommt der mit’nem Ferrari zu mir zum Training…“. Ach ja, na gut, okay. Während Du darüber nachdenkst, ob es negative Skalenwerte für kognitive Fähigkeiten gibt, seid Ihr schon im Vereinsheim.
„Tach Leute“, röhrt Kalle in die Runde. Die besteht aus drei Leuten: Ein Gast an der Theke, der in eine Sportwettenzeitung vertieft ist. Dann ist da ein Herr, der etwas abseits steht, auf seinem iPhone herumfingert und die Vertrauenswürdigkeit eines syrischen Gebrauchtwagenhändlers ausstrahlt. Hinter der Theke steht schließlich der Wirt, der seine steroidgestärkten, üppig tätowierten Arme gelangweilt auf den Tresen stützt. Keiner reagiert beim entschieden zu lautem Gruß.
„Komm“, raunt Kalle Dir zu, „Ich tu‘ einen aus.“ Und laut zum Wirt: „Lutz, zwei Pils, schreibste bei mir a…“ – „‘n Scheiß mach’ ich, zahl‘ Du erstmal Deinen Deckel von letzter Woche!“, schnauzt der Wirt in Kalles joviale Bestellung hinein. „Mann, mann“, nörgelt der Zeitungleser ohne von seiner Lektüre hochzuschauen. Kalle ignoriert beides charmant und beugt sich wieder zu Dir – Gibt es negative Skalenwerte für höfliche Distanz? „Der da vorne“, raunt er und zeigt auf den fingerfertigen iPhone-Besitzer, „Das ist unser Hauptsponsor. Ich sag Dir, mit dem reißen wir was! Wir werden um den Aufstieg mitspielen, glaubste dat? Aber lass uns mal los, gleich ist Anstoß.“. Und wieder reißt er Dich mit. Wieder keine Chance zu fliehen.
Auf dem Weg zum Spiel führt Kalle aus, warum der Gastgeber sein persönlicher Geheimtipp für die Sonnenseite der Abschlusstabelle ist. „Meinst Du wirklich?“, fragst Du nach. Du willst immer noch nicht unhöflich sein, aber der geäußerte Optimismus scheint doch etwas merkwürdig, schließlich ist der Verein gerade erst aus einer deutlich spielschwächeren Liga aufgestiegen. „Hier passiert richtig was“, antwortet Kalle mit tiefster Überzeugung, „auch im Umfeld. Heute kommen 6.000 Zuschauer, wirste sehen.“. Kaum auf der Tribüne angekommen, weist Kalle in das Rund: „Siehste?“. Das Stadion ist ein alter, runder Schüsselbau. Es verlieren sich in der Tat ein paar Zuschauer auf den Rängen – 1.500, wie Du am nächsten Tag aus der Zeitung erfährst.
Das Spiel beginnt. Kalle hat bei jedem Ballkontakt aufmunternd aufs Spielfeld gebrüllte Tipps parat. Außerdem gibt er tiefe Einblicke in sein enormes fußballerisches Fachwissen, das sich beispielhaft etwa so zusammenfassen lässt: Beim berühmten Wunder von Zürich im Jahre 1956 wurde Deutschland Fußballweltmeister. Zum 4:3 im Finale gegen Bulgarien steuerte Hans Islacker (den Kalle persönlich kennt) drei Tore bei.
Mehrere fingierte Toilettenbesuche, mit denen Du die Nervensäge loswerden willst, scheitern – „Du, da komme ich mit“. In der Halbzeit geht es an die Wurstbude. „Meine Alte ist übrigens Chefin vom Getränkecatering“, verkündet Kalle, als Ihr in der Schlange vor der Bude steht. Der Wurstverkäufer macht einen Kardinalfehler. „Hey, Kalle, na, wie läuft das Spiel?“. Der nimmt eine bequeme Haltung am Budentresen ein und setzt zu einer längeren Spielanalyse an, ohne zu merken, dass hinter ihm das Magenknurren lauter und die Gesichter immer länger werden. Du denkst, dass die Leute hier ziemlich geduldig sind- bei Deinem Heimatverein hätten längst sie mit Kalle die Theke gewischt.
Die zweite Halbzeit verläuft so wie die erste. Übrigens auch auf dem Rasen. Die Gästemannschaft ist gnadenlos überlegen. „Das war niemals ein Elfmeter“, brüllt Kalle, als einer der überforderten Innenverteidiger der Heimmannschaft einen Gästestürmer in Wrestlingmanier zu Boden reißt. „Unverdient!“, ruft Kalle, als der Gefoulte locker zum 0:6 einschiebt, „Wir waren klar besser!“. Er klettert die Tribüne hinunter in Richtung Trainerbank, „Ey, Manni, wechsel‘ den Kevin ein…“, und da…in dem Moment…schaffst Du es zu fliehen.
Habt Ihr Euch amüsiert? Wartet ab! Beim nächsten Spiel…oder beim übernächsten…irgendwann…wird Kalle auch EUCH erwischen!!!
Seine Alte – die „Chefin vom Getränkecatering“ – hat übrigens die Flaschen aufgemacht und nach vorne durchgereicht.
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